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MCO: Missionsverlust durch falsche Einheiten?

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Falsche Einheiten, in diesem Fall Pounds of force statt Newton, führen dazu, dass eine Mars-Mission verloren geht. Kann das wirklich sein? Klar kann das sein, aber ganz so simpel, wie es sich manche vorstellen, war dieser Fall nicht gelagert. Auch die Beteiligten waren nicht gar so blöd, wie man es anhand mancher Behauptungen durch Außenstehende annehmen könnte.

 Das Ende des Mars Climate Orbiter

Am 23. September 1999 erreicht die kleine NASA-Marssonde “Mars Climate Orbiter” (MCO) den roten Planeten. Ein 16 Minuten langes Bremsmanöver (MOI=Mars Orbit Insertion) soll das Raumfahrzeug in eine elliptische Bahn um Mars einschießen. Eigentlich kein besonders kritisches Manöver, wenn alles gut läuft.

Während des Manövers wird der Orbiter von der Erde aus gesehen hinter dem Mars verschwinden. Diese Okkultation ist unausweichlich und in den Operationen berücksichtigt. Sie unterbricht die Kommunikation mit der Erde während einer kritischen Missionsphase, was aber in der Praxis nicht viel ausmacht. Sollte etwas schief sehen, dann würde man das aufgrund der Lichtlaufzeit im Kontrollzentrum ohnehin erst mitkriegen, wenn schon alles zu spät ist. Ein Eingreifen ist unmöglich.

Beim MCO läuft aber nicht alles gut. Es läuft sogar sehr schlecht. Zum vorausberechneten Zeitpunkt, an dem der MCO wieder mit der Erde Kontakt aufnehmen sollte, kommt kein Signal. Auch alle weiteren Kontaktversuche bleiben erfolglos.

Der MCO ist verunglückt.

Problem: Vorausberechnung der Bahn

Während des gesamten Transfers vom Mars zur Erde wird die Bahn einer Raumsonde bestimmt. Es ist aber grundsätzlich nicht möglich, eine Bahn mal eben so zu vermessen wie ein Gartengrundstück und damit in sehr kurzer Zeit genau zu ermitteln, wo die Sonde gerade ist (=den Positionsvektor), und in kaum weniger kurzer Zeit noch zu berechnen, wo sie hinfliegt (=den Geschwindigkeitsvektor).

Könnte man durch einige wenige Messung sowohl aktuelle Position wie auch aktuelle Geschwindigkeit bestimmen, hätte man den kompletten Zustandsvektor. Dieser kann mittels numerischer Integration mit hoher Genauigkeit über die Zeit propagiert werden. Die Propagation ist allerdings das geringste Problem. Man muss dazu nur die Störungen der Bahn modellieren können. Die wichtigsten Störungen werden durch die Schwerkraft der Planeten verursacht. Da man Massen und Bahnen genau kennt, ist die Berechnung dieser Störkräfte einfach.

Schon etwas schwieriger ist die Einbeziehung der nichtgravitationellen Störungen. Der Solardruck kann zwar bei einfachen geometrischen Formen mit genau bekanntem Reflexionsverhalten exakt bestimmt werden. Hier aber hat man einen komplexen Satellitenkorpus, mit Abschattungen, unterschiedlichen Oberflächenmaterialien, Re-Reflexion. Hinzu kommt, besonders in den ersten Wochen der Mission, das Ausgasen flüchtiger Bestandteile der oberflächennahen Komponenten. Dieser Effekt kann eigentlich gar nicht exakt vorhergesagt werden.

Vor allem wegen der unbekannten, kleinen, aber über längere Zeiträume hinweg spürbaren Störbeschleunigungen kann für den Zustandsvektor zu jedem Zeitpunkt immer nur ein Fehlerellipsoid bestimmt werden, innerhalb dessen sich der Zustand mit einer gegeben Wahrscheinlichkeit (üblicherweise drei Standardabweichungen) befindet. Dieser Ellipsoid wird immer größer, je länger die letzte Bahnbestimmung zurück liegt. Deswegen sind häufige Updates der Bahnbestimmung erforderlich.

Der kritische Punkt: Störbeschleunigungen durch die Lageregelung

Die wahrscheinlich wesentliche Komponente der nicht-gravitationellen Bahnstörungen hat mit der Lageregelung zu tun. Während des Transfers muss die Sonde so ausgerichtet sein, dass die Solargeneratoren Richtung Sonne und die Hauptantenne Richtung Erde orientiert ist. Dazu kann man entweder kleine Steuertriebwerke verwenden, oder aber Drallräder. Letztere müssen abgebremst werden, wenn sie ihrer Maximaldrehzahl zu nahe kommen. Das Abbremsen würde die Raumsonde in Drehung versetzen, also hält man mit den kleinen Steuertriebwerken dagegen. Man spricht auf Techlisch von “Wheel Offloading”, “Momentum dumping” oder “Angular Momentum Desaturation”, gemeint ist immer dasselbe.

Diese Steuertriebwerke erzeugen aber nicht nur ein Drehmoment, sondern auch eine Beschleunigung, die Bahn der Sonde stört. Zwischen dem “Wheel offloading” und den Störbeschleunigungen besteht ein fester Zusammenhang. Wenn die Triebwerke so eingebaut sind, dass der Hebelarm ihres Schubvektors kurz ist, werden die erforderlichen Manöver zum “Entladen” der Drallräder länger. Der Zusammenhang muss dem Betreiber der Raumsonde vom Hersteller mitgeteilt werden.

Genau dieser Zusammenhang wurde falsch angegeben, und zwar als numerischer Zahlenwert mit der Einheit “pounds of force * Sekunde” [lbfs], wobei ein Zahlenwert mit der metrischen Einheit “Newton * Sekunde” [Ns] erwartet wurde. Das bedeutet, dass der Zahlenwert selbst um den Faktor 4.45 zu klein war. So einen Fehler sieht man nicht gleich beim Drüberschauen, aber er macht sich im Betrieb unweigerlich bemerkbar.

Bei konsequenter und durchgängiger Verwendung metrischer Einheiten wäre dieses Problem gar nicht erst aufgetreten. Ich muss dazu sagen, dass ich die Verwendung der Einheit “pound” für die Masse, aber auch für die Kraft ohnehin krank finde. “pounds of force”, was ist das denn für ein Quatsch?

Bahnbestimmung und Residuen

Zurück zur Bahnbestimmung. Die Vorausberechnung der Bahn ist ein wichtiger Teil dieses Prozesses, aber nicht der einzige. Bahnbestimmung ist ein iterativer Vorgang. Man hat eine Anfangsschätzung des Zustandsvektors und der anderen zu bestimmenden Größen zu einem Referenzzeitpunkt.

Man kann aber die Bahn nicht direkt vermessen. Man hat nur eine Folge radiometrischer Messwerte. Zu bestimmten Zeiten wird beispielsweise der Abstand zwischen Bodenstation und Raumsonde aus der Lichtlaufzeit und die Dopplerverschiebung des auf der Erde ankommenden Signals gemessen. Wenn man die Sendefrequenz genau kennt, ist die Dopplerverschiebung mit Abstand die wichtigste Messgröße.

Aus einer Kette gemessener Dopplerverschiebungen kann man aber noch keine Bahn berechnen. Das ist komplizierter. Aus der Anfangsschätzung folgen, wenn man die Bahn propagiert, berechnete Messdaten. Man kann also ausrechnen, welche Abstände und welche Dopplerverschiebungen man zu einer Folge von Messzeiten hätte messen müssen, wenn diese Anfangsschätzung tatsächlich den Zustand der Raumsonde repräsentiert hätte. Die “ausgerechneten Messwerte” und die “gemessenen Messwerte” werden sich aber unterscheiden.

Diese Anfangsschätzung wird iterativ, also in einer Kette aufeinanderfolgender Schleifen, verbessert. Ich gehe jetzt nicht im Detail darauf ein, wie das geht. Wir machen hier heute keine Vorlesung in numerischer Mathematik. Nur so viel: Die “Residuen”, also der Fehler zwischen ausgerechneten und gemessenen Messwerten, haben ihren Ursprung zum Teil im Fehler der Anfangsschätzung, zum Teil in Messungenauigkeiten und zum Teil in Fehlern im mathematischen Modell, das die Bahn der Sonde und die Erstellung der Messdaten beschreibt.

Die Tatsache, dass eine wichtige Störgröße im Modell um einen Faktor 4.45 zu klein eingegeben worden war, ist ein solcher Fehler im mathematischen Modell. Die Folge war, dass während des gesamten Transfers die Residuen, also der Restfehler zwischen ausgerechneten und gemessenen Messwerten, beträchtlich blieb. Größer als erwartet, aber nicht so groß, dass die Ursache einfach zu finden wäre.

… und dann kam auch noch Pech dazu

Die Folge des Modellierungsfehlers war, kurz gesagt, dass der iterative Prozess der Bahnbestimmung auf einen falschen Zustandsvektor hin konvergierte. Gleichzeitig blieben die Residuen zu groß.

Was die Bedienungsmannschaft nicht wusste: Die Bahn- und Lagegeometrie war dergestalt, dass der Fehler in der Position und Geschwindigkeit zum Referenz-Zeitpunkt sich genau in die Richtung auswirkte, die mit Doppler- und Ranging nicht zu beobachten ist. Sowohl Doppler- als auch Entfernungsmessungen “sehen” ja nur die Komponente in Sichtrichtung, also entang der Verbindungslinie zwischen Erde und Raumsonde. Alles, was sich senkrecht zu dieser Richtung abspielt, kann man den Messdaten erst einmal nicht entnehmen.

Die Bahn einer Raumsonde könnte also senkrecht zur Beobachtungsrichtung einen Fehler von vielen Kilometern aufbauen, man würde es nicht sofort bemerken. Irgendwann natürlich schon, wenn der beobachtete Bahnbogen nur lang genug ist.

Hier lag aber der Hase im Pfeffer. Die berechnete Bahn wies gegenüber der tatsächlichen einen Fehler vorwiegend in jener Komponente auf, die mit den zur Verfügung stehenden Messdaten Ranging und Doppler schwer zu beobachten war. Dieser Fehler, wenn man die Bahn zum Mars weiter voraus berechnete, wirkte sich so aus, dass der marsnächste Punkt nicht wie geplant 224 km über der Marsoberfläche lag, sondern viel tiefer. Im Nachhinein wurde festgestellt, dass die Sonde wahrscheinlich bis auf weniger als 75 km hinunter ging, wobei die atmosphärischen Kräfte sie auseinander rissen und der Reibungswärme ihre Tanks überhitzte und ihr so den Rest gab.

Etwas mehr als 150 km Fehler über eine Flugstrecke von etwa 500 Millionen klingt auf Anhieb vielleicht nicht dramatisch, aber es ist eine gewaltige Abweichung. Üblicherweise ist bei der Marsankunft mit einem Positionsfehler von maximal einigen Kilometern zu rechnen.

Warum haben die das nicht gemerkt?

Es war bekannt, das etwas nicht stimmte, aber aufgrund der unzureichenden Messdaten ließ sich die Fehlerursache nicht einkreisen. MCO war eine “faster-cheaper-better”-Mission mit einem Budget von 125 M$. Das erlegt den verfügbaren Ressourcen enge Grenzen auf. Auch Personal oder ausgiebige Messkampagnen sind eine solche Ressource. Es musste aber auch beim Training und bei Verifikationstests gepart werden, wie der Bericht der Untersuchungskommission festgestellt hat. Billig und gut sind nun einmal zwei Begriffe, die einander weitgehend ausschließen.

Als Konsequenz aus dem Debakel wurde beschlossen, zukünftig immer auch Messungen vom Typ “Delta-DOR” (=Delta Differential One Way Ranging) einzusetzen. Dazu benutzt man zwei Bodenstationen und ein interferometrisches Verfahren, mit dem auch Positionskomponenten in einer Richtung senkrecht zur Beobachtungslinie gemessen werden können. Aufwand und Kosten von Delta-DOR sind jedoch erheblich, nicht nur wegen der Tatsache, dass zwei Bodenstationen verwendet und durch Ausrichtung auf einen Quasar kalibriert werden müssen, sondern auch wegen der Komplexität der interferometrischen Messungen.

Also eine Abkehr vom ganz billigen Weg.

Führten falsche Einheiten wirklich zum Verlust des MCO?

Formal erscheint es so, dass die Fehlerursache auf falsche Einheiten zurück zu führen ist. Das greift aber zu kurz. Der falsche Wert im Modell der Bahnstörungen hätte auch aufgrund eines Rechenfehlers oder einer falschen Annahme auftreten können und hätte sich auch dann vielleicht ähnlich ausgewirkt.

Das Kontrollteam hatte ja durchaus gemerkt, dass etwas faul war, aber zur genauen Eingrenzung der Fehlerursache fehlten ihnen die Erfahrung und vor allem die Daten. Das war der Kern des Problems. Die Entscheidung zur Einbeziehung eines von Ranging und Doppler unabhängigen Messdatentyps ist daher richtig, ebenso, im weiteren Kontext, die Abkehr vom Low-Cost-Ansatz.

Weitere Information

Mars Climate Orbiter Mishap Investigation Board Phase 1 Report, NASA, 10. November 1999

Der Beitrag MCO: Missionsverlust durch falsche Einheiten? erschien zuerst auf Go for Launch.


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