Quantcast
Channel: Mars – Go for Launch
Viewing all articles
Browse latest Browse all 71

Aerocapture – Wie?

$
0
0

Frohes neues Jahr. Thema heute: die unterschiedlichen Möglichkeiten zum aerodynamischen Einfang (engl.: „aerocapture“) eines interplanetaren Raumschiffs. Aerocapture ist von hohem Interesse, weil man sich dadurch eine erhebliche Treibstoffersparnis erhofft. Auf jeden Fall ist so ein Manöver hochgradig nichttrivial.

Zunächst einmal der Hinweis, dass Aerocapture nicht mit Aerobraking verwechselt werden sollte. Aerobraking ist zumeist langwierig, dann aber vergleichsweise einfach und risikoarm. Aerocapture dagegen bedeutet, dass innerhalb der wenigen Minuten eines atmosphärischen Durchflugs sehr viel kinetische Energie eines Raumschiffs, das sich dem Zielplaneten mit hyperbolischer Geschwindigkeit nähert, in Form von Wärme dissipiert wird. Hier ein grobes Schema des Ablaufs:

Schematische Darstellung des aerodynamischen Einfangs (engl. aerocapture)

Credit: Michael Khan / Schematische Darstellung des aerodynamischen Einfangs (engl. aerocapture)

Die rote Kurve zeigt die Bahn des Raumschiffs, wenn die Atmosphäre nicht da wäre, es also auch keine atmosphärische Abbremsung gäbe. Das Schiff nähert sich mit hyperbolischer Anfluggeschwindigkeit, also zu schnell für eine gebundene Bahn um den Planeten (hier: Mars). Während der Annäherung wird das Schiff relativ zum Mars schneller; seine Bahn wird zum Planeten hin gebogen. Nach der größten Annäherung wird das Schiff wieder langsamer und verlässt die Einflusssphäre mit derselben Geschwindigkeit relativ zum Planeten wie bei der Ankunft. Es wurde dabei allerdings umgelenkt.

Betrachtet man aber auch die Abbremsung in der Atmosphäre durch aerodynamischen Widerstand, dann wird, wenn der Bahn genug Energie entzogen wird, aus der Hyperbel eine Ellipse. Genau das ist der zentrale Punkt des Aerocapture.

Nach dem Verlassen der Atmosphäre ist die Einfangbahn elliptisch, aber ihr niedrigster Punkt liegt noch immer innerhalb der Atmosphäre. Man muss also am ersten Apozentrum das Bordtriebwerk zünden, so dass das Raumschiff in Richtung seiner augenblicklichen Geschwindigkeit beschleunigt wird. Das heißt, der Bahn wird wieder etwas Energie zugeführt. Dadurch wird das Perizentrum aus der Atmosphäre geholt.

Ich gehe im Folgenden nur auf die zwei Hauptgeschmacksrichtungen ein. Man könnte sich natürlich noch weitere Möglichkeiten ausdenken, um das Manöver weiter zu verfeinern. Aber so lange noch nicht einmal das Verfahren an sich demonstriert wurde, liegen irgendwelche zusätzlichen Komplikationen in weiter Ferne.

Deep Aerocapture

Deep Aerocapture bedingt einen Eintritt in die Atmosphäre mit einem relativ steilen Eintrittswinkel, etwa -7 bis -9 Grad. Die Bahn führt tief herunter, beim Mars typischerweise in 24-45 km Höhe. Dabei wird es zu erheblichen Wärmeflüssen und aerodynamischen Kräften kommen. Das Schiff muss also in eine mit einem Hitzeschild versehene Umhüllung gesteckt werden. Es ist immer notwendig, die Bahn zu steuern, denn weder lässt sich der nominale Eintrittswinkel punktgenau einhalten, noch sind die atmosphärischen Bedingungen exakt vorhersagbar. Hier eine schematische Darstellung des Deep Aerocapture:

Schematische Darstellung des aerodynamischen Einfangs mit tiefem Eintritt (deep aerocapture). Diese Strategie bedarf eines steuerbaren Körpers, der aerodynamischen Auftrieb erzeugt.

Credit: Michael Khan / Schematische Darstellung des aerodynamischen Einfangs mit tiefem Eintritt (deep aerocapture). Diese Strategie bedarf eines steuerbaren Körpers, der aerodynamischen Auftrieb erzeugt.

Die wahrscheinlich sinnvollste Methode zur Steuerung ist, die aerodynamische Umhüllung (engl.: aeroshell) so auszulegen, dass sie aerodynamischen Auftrieb erzeugt. Bikonische Körper, also solche, deren Form aus zwei Kegelstümpfen zusammengesetzt wird, werden in der Literatur oft genannt.

Der aerodynamische Angriffspunkt und der Massenmittelpunkt müssen so liegen, dass der Anstellwinkel relativ zur Anströmung passiv stabil bleibt. Die Widerstandskraft wirkt per Definition parallel zur Anströmrichtung, die Auftriebskraft senkrecht dazu. Die Richtung der Auftriebskraft kann dann aber noch gesteuert werden, und zwar durch eine Rotation des gesamten Objekts um die Richtung der Anströmung herum, ohne dabei den Anstellwinkel zu veränden. Dies wurde bereits vielfach in der Praxis angewendet, z.B. bei den Apollo- und Soyuz-Eintrittskapseln und bei der Aeroshell der NASA-Mars-Landemission MSL.

Wird der nominale Eintrittswinkel getroffen, dann ist das Eintrittsgefährt anfangs „über Kopf“ ausgerichtet, sodass der Vektor der Auftriebskraft nach unten zeigt. An einem bestimmten Punkt im Lauf des aerodynamischen Durchflugs wird das Gefährt rotiert, sodass es der Auftrieb nach oben zeigt.

Der Verlauf der Trajektorie ergibt sich aus der Summe aller während des Durchflugs einwirkenden Beschleunigungen. Es ist wohlgemerkt nicht so, dass das Raumschiff „an der Atmosphäre abprallt“, wie man manchmal liest. Das sieht nur so aus – eine Konsequenz der Tatsache, dass hier eine gebogene Bahn um einen runden Körper relativ zu einer flachen Oberfläche aufgemalt wurde.Trotzdem ist es so, dass aerodynamische Kräfte die Bahn stark beeinflussen. Es kann durchaus so sein, dass das Schiff nicht aus der Atmosphäre heraus kommt, wenn der Auftrieb zu lange in die falsche Richtung zeigt.

Eine inertiale Plattform an Bord registriert die aerodynamische Abbremsung und vergleicht sie mit dem erwarteten nominalen Profil, das im Speicher abgelegt wurde.

Ist die Abbremsung stärker als erwartet, dann ist das ein Indiz dafür, dass der Eintritt steiler war als geplant. Als Reaktion darauf wird die Rotation in die Position „Auftrieb nach oben“ etwas vorgezogen.Im umgekehrten Fall, wenn die Abbremsung geringer ist als erwartet, war der Eintritt wohl zu flach. Dann bleibt das Schiff etwas länger „über Kopf“. So kann die Chance vergrößert werden, dass Abbremsung und Wärmefluß die Grenzwerte nicht überschreiten und dass das Schiff in eine gebundene Bahn eingefangen wird und nicht entweder auf die Oberfläche stürzt oder den Mars auf einer immer noch hyperbolischen Bahn verlässt.

Die aerodynamische Umhüllung, die das eigentliche Schiff vollkommen umschließt, muss nach dem atmosphärischen Durchflug abgesprengt werden. Es sei denn, man findet eine Lösung, um die Aeroshell in die Schiffsstruktur zu integrieren und trotzdem die nachher benötigten Solargeneratoren, Antennen und Sensoren auszufahren und die thermische Regelung des Schiffsinneren hinzubekommen.

Beim ersten Apozentrum muss das Schiff bereits imstande sein, ein Triebwerksmanöver durchzuführen, um das Perizentrum aus der Atmosphäre zu heben. Das ist nicht verhandelbar. Je nach erzielter Bahnperiode liegt das Manöver weniger als eine Stunde bis maximal einige wenige Stunden nach dem Verlassen der Atmosphäre. Man muss sich also mit der Umkonfiguration des Raumschiffs sputen und auch sicher stellen, dass die Bahn hinreichend gut bekannt ist, damit das Schiff zuverlässig die Bahnperiode, den Zeitpunkt und die erforderliche Richtung und Größe des Manövers kennt.

Shallow Aerocapture

Es geht auch anders. Wahrscheinlich sogar etwas einfacher, wenn auch immer noch nicht „ganz einfach“. Wenn die ganzen Probleme mit der aerodynamischen Steuerung durch Drehung des Auftriebsvektors und die thermischen und mechanischen Belastungen des Deep Aerocapture vermieden werden sollen, kann man sich auch vorstellen, dass das Schiff flach in die Atmosphäre eintritt und deswegen nicht so tief eintaucht. Weiter oben ist die atmosphärische Dichte um Größenordnungen geringer. Deswegen ist auch der Wärmestrom und der dynamische Druck viel kleiner. Man braucht daher keinen Hitzeschild, oder allenfalls einen kleinen, dünnen (Ja, es heißt der Hitzeschild, nicht das).

Schematische Darstellung des aerodynamischen Einfangs mit flachem Eintritt (shallow aerocapture). Dieses Verfahren benötigt keine aerodynamische Auftriebskraft, wohl aber einen geschleppten Widerstandskörper geringer Masse und großer Querschnittsfläche

Credit: Michael Khan / Schematische Darstellung des aerodynamischen Einfangs mit flachem Eintritt (shallow aerocapture). Dieses Verfahren benötigt keine aerodynamische Auftriebskraft, wohl aber einen geschleppten Widerstandskörper geringer Masse und großer Querschnittsfläche

Das Problem ist aber, dass die viel geringere Abbremsung wahrscheinlich nicht ausreicht, um die Geschwindigkeit so zu verringern, dass das Schiff in einer gebundenen Bahn ankommt. Die einzige Lösung ist, die Querschnittsfläche zu vergrößern. Das ginge beispielsweise über eine aufblasbare Struktur. Diese nennt man auf Englisch „ballute“, eine Zusammensetzung aus „balloon“ und „parachute“. Es gibt bereits erhebliche praktische Erfahrung mit Ballutes, allerdings in der Erdatmosphäre, mit relativ kleinen Abmessungen und vorwiegend für militärische Anwendungen. Für ein Aerocapture am Mars wäre ein sehr großer Ballute erforderlich. Wie groß, das hängt davon ab, welche Masse des Raumschiff hat. Wahrscheinlich reden wir von Hunderten Quadratmeter Querschnittsfläche.

Der Ballute kann vorne am Raumschiff sitzen oder auch geschleppt werden. Auch hier über eine inertiale Plattform die Abbremsung registriert und mit einem Nominalprofil verglichen. Da es hier keinen Auftrieb gibt – zumindest nicht, wenn der Ballute geschleppt wird – bleibt als einzige Möglichkeit des Eingriffs der Moment des Abtrennens des Ballute. Bei zu steilem Eintritt trennt man ihn früher ab, bei zu flachem später. Ohne Ballute folgt das Raumschiff weitgehend ungebremst seiner Bahn aus der Atmosphäre heraus.

Auch hier ist ein Bahnanhebungsmanöver am ersten Apozentrum zwingend erforderlich.

Und wo ist das Problem?

Zunächst einmal: Ein vollkommen passives, also unkontrolliertes Aerocapture halte ich für technisch nicht durchführbar. Die erforderliche Zielgenauigkeit im Anflug kann nicht relaisiert werden. Und selbst wenn, wäre die erzielte Einschussgenauigkeit zu gering. Die Endbahn wäre dann irgendwo zwischen ziemlich niedrig und stark exzentrisch.

Ich denke nicht, dass die Schwierigkeit mit den oben skizzierten Techniken zum kontrollierten Aerocapture verbundenen Schwierigkeiten unlösbar sind. Das kann man hinkriegen.

Beim Deep Aerocapture sind die Knackpunkte:

  • Hohe thermische und strukturelle Belastungen
  • Erhebliche konstruktive Komplexität
  • Hohes Risiko
  • Erhebliche Anforderungen an das Raumschiff, dass in die Aeroshell passen muss

Beim Shallow Aerocapture sehe ich eigentlich nur ein großes Problem:

  • Konstruktion des Ballute oder der Ballutes, die trotz riesigen Volumens schnell aufblasbar und stabil genug sein müssen, um den (allerdings reduzierten) Belastungen beim atmosphärischen Durchflug standzuhalten.

Mit beiden Verfahren sollte es möglich sein, trotz der unvermeidlichen Fehler im Eintrittswinkel und  der Unwägbarkeiten der variablen Atmosphäre das verabreichte Delta-v recht genau zu dosieren. d.h., die Apozentrumshöhe der Einfangbahn wird in etwa dort landen, wo man sie haben will.

Ich gehe davon aus, dass wir in absehbarer Zeit Missionen mit Aerocapture sehen werden. das werden natürlich unbemannte Missionen sein. Der Schwierigkeitsgrad steigt mit der Größe und Masse des Raumschiffs. Die Masse steigt in erster Näherung mit der dritten Potenz der Abmessungen, die Querschnittsfläche aber nur mit deren Quadrat. Das betrifft in erster Linie die Aeroshell für das Deep Aerocapture. Für ein richtig großes Schiff müsste die aerodynamische Umhüllung riesengroß werden und dennoch thermisch abgeschirmt, solide gebaut, und manövrierbar sei, dazu eventuell noch absprengbar?

Beim Shallow Aerocapture sind die Abmessungen des Schiffs nicht relevant, sondern nur seine Masse. Wenn ein Schiff eine Masse von X kg hat und der zum Shallow Aerocapture erforderliche Ballute den Durchmesser Y m, und ein viel größeres Schiff hat eine Masse von 10x kg, dann braucht dieses größere Schiff nur einen Ballute mit dem Durchmesser (√10)*Y m.

In beiden Fällen gibt es für den Eintrittswinkel einen möglichen Korridor. Beim Deep Aerocapture ist dies der Bereich zwischen dem steilsten Eintrittswinkel, bei dem der Auftriebsvektor schon sehr früh nach oben gerichtet wird, und dem flachsten Eintrittswinkel, bei dem die Aeroshell während der gesamten Trajektorie über Kopf fliegen muss. Noch steiler: die Zielbahn wird unterschritten, vielleicht kommt es zum Absturz. Noch flacher: Die Endbahn bleibt zu hochexzentrisch, vielleicht erfolgt sogar überhaupt kein Einfang. Hinzu kommen bei zu steilem Eintritt die dann zu hohen thermischen und strukturellen Belastungen. Ähnliches gilt beim Shallow Aerocapture.

Nach meiner unmaßgeblichen Einschätzung wird Shallow Aerocapture der Weg sein, den man gehen wird.

 

Der Beitrag Aerocapture – Wie? erschien zuerst auf Go for Launch.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 71